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ild und Geschichte 37
Das Taschenmesser war das wohl wichtigste Utensil eines jeden; man konnte es auf typisch schweizerische Weise sehr vielseitig verwenden. Die typisch schweizerische Vielseitigkeit hat Tradition; denken wir nur mal an die Hauptwaffe der Eidgenossen, die sie zu den gefährlichsten und gefragtesten Kriegern im 14. Und 15. Jahrhundert machte: die Hellebarde. Sie war ja schon ein Mehrzweckgerät par excellence: vorne war sie ein Speer zum Stechen, dann gab es ein Beil zum Hauen und mit dem Haken auf der anderen Seite, konnte man die Ritter vom Pferd zerren. Diese Multifunktionalität finden wir in unserem Taschenmesser wieder. Und ich erinnere mich, dass der Hausvater das Messer auch dort aus seiner Tasche holte, wo er es eigentlich gar nicht brauchte, beim Essen. Er benutzte nie die vor ihm liegenden Küchenmesser, sondern schnitt alles mit seinem Taschenmesser klein. Die liebste Funktion wurde uns in zunehmendem «Flegilaalter» (Adoleszenz) der «Zapfuziejer» (Korkenzieher) oder «ds Simpilerbätti». In der RS fassten wir nun endlich unser eigenes Militärmesser, freudig hielten wir das silbrig glänzende Stück Metall in den Händen und bestaunten es: grosse Klinge, kleine Klinge, Ahle und Büchsenöffner auf der anderen Seite unten, Schraubenzieher und… nein, der Korkenzieher fehlte; könnt ihr euch das Murren in der Walliser Kompagnie vorstellen. Da es bei jeder Inspektion auch noch blitz blank seine musste, eine Art Piece de Resistance in der Reinlichkeitskontrolle, haben wir es recht bald auf die Seite gelegt und mit einem zweiten, mit Korkenzieher, gearbeitet – bei der nächsten Inspektion haben wir dann wieder das ungebrauchte, saubere vorgezeigt. Ich glaube die Schweizer Armee hatte einen Vertrag mit den Messerherstellern.
Ich weiss nicht, ob es sich um eine versteckte Alkoholprävention handelte, aber unser «Opinel», das wir als Knaben geschenkt bekamen, hatte auch keinen Zapfenzieher, nur eine Klinge; die besseren (vgl. Bild) sogar einen Verstellring, so dass einem nicht dauernd die Klinge zuklappte und in den Daumen schnitt. Neben dem Schnitzen (vgl. https://www.walliserdialekt.ch/post/miis-sackmesser-1) benutzten wir das Messer auch noch als Spielgerät: stundenlang haben wir beim «Hirtu» «ds Messerspill» gespielt. Dazu brauchten wir nichts anderes als unser Sackmesser und einen weichen Wiesenboden. Abwechseln wurde das Messer mit einer speziellen, sich nach jedem Wurf ändernden und komplizierteren Technik in die Luft geworfen und es musste mit der Scheidenspitze im Boden stecken, wem es nicht steckte, der hatte verloren und das Spiel begann von neuem. Auch ein beliebtes, aber gefährlicheres Spiel war das «Fingerstächu», es war eher eine Mutprobe denn ein Spiel: die linke Hand wurde gespreizt auf den Boden gelegte, dann nahm man das Messer in die rechte Hand. Nun stach man mit dem Messer neben den Daumen, dann zwischen Daumen und Finger, dann zwischen die nächsten Finger und dazwischen immer zurück zum Anfang; das Ziel war es, diese Bewegungen möglichst schnell auszuführen. Einer stach und die anderen zählten und warteten gespannt darauf, dass er daneben stach; gewonnen hatte derjenige, der am schnellsten durch war – wie oft man sich dabei in die Finger stach, spielte keine Rolle.
Im Gegensatz zu heute haben wir unser Messer nie im Streit verwendet: Fäuste, Steine und Stecken mussten genügen.
Bürchen, 11. Mai. 20
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